Familie Baum ist fertig mit dem Abendessen. Heute sind nur Papa, Mama und Bela daheim in ihrem Haus, die größeren Töchter Lilly und Lotta sind mit Freundinnen unterwegs. Bela räumt den Esstisch ab, er bringt Teller für Teller, Messer für Messer, Gabel für Gabel in die Küche und geht dabei höchst akribisch vor. „Klar hilft Bela mit. Wir alle!“, sagt Mama Anne Baum und lächelt ihren Sohn an. Neun Jahre ist Bela alt, er geht in die zweite Klasse – und er ist mit Trisomie 21, dem Down-Syndrom, auf die Welt gekommen.
Was das bedeutet? Für Familie Baum aus Bamberg-Gaustadt heißt es, ein Kind zu haben, das länger in der Kleinkindphase zu stecken scheint als andere. Wenn Bela fröhlich ist, ist er richtig froh. Wenn er traurig ist, ist er richtig traurig. Er wirkt echt und authentisch. Er lacht viel und lässt dabei seine Augen strahlen. Als die Schwestern acht waren, waren sie ganz schön morgenmuffelig, erinnert sich Anne Baum. Bela, das Nesthäkchen, ist von früh bis spät ausgeglichen und positiv. Er spricht nicht immer deutlich, aber immer besser. „Als er mich vor gut einem Jahr mit einem deutlichen ‚Mama, bitte aufstehen!‘ geweckt hat, habe ich mich sehr gefreut: Vor fünf Jahren noch hatten Logopäden gezweifelt, dass er je würde sprechen können.“
“Ich reduziere meine anderen Kinder auch nicht auf ihre Schwächen.”
Dass die Baums Bela besser im Auge behalten müssen als möglicherweise andere Eltern ihre neunjährigen Kinder, liegt daran, dass er manchmal auf abenteuerliche Ideen kommt: Gern würde er manchmal die Gegend auf eigene Faust erkunden und einfach zur Tür rausspazieren. Oder auf Möbel klettern, die nicht stabil genug sind. „Ansonsten würde ich Bela ungern auf das Down-Syndrom reduzieren“, sagt die 47-jährige Mama. „Ich reduziere meine anderen Kinder ja auch nicht auf ihre Schwächen.“
Bela steigt jeden Morgen um halb acht in den Bus, der ihn zur Bertold-Scharfenberg-Schule bringt, einer Schule der unabhängigen Selbsthilfevereinigung für Menschen mit Behinderung. Anne Baum, der ein Kindermodegeschäft in den Bamberger Theatergassen gehört, hätte ihn gerne in der Grundschule im Stadtteil Gaustadt angemeldet – wo auch die anderen Kinder aus Belas Kindergarten hingehen. Es hat nicht geklappt: Obwohl es in Gaustadt integrative Klassen gibt, in der Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam die Schulbank drücken, konnte Bela keinen Platz bekommen: Aus Personalmangel können nicht beliebig viele Kinder mit Entwicklungsverzögerungen und/oder körperlichen Einschränkungen in der Stadtteil-Schule aufgenommen werden. „Ich fand das sehr schade“, sagt Anne Baum. „Und ihr Eindruck bleibt, dass manche in Deutschland Kinder mit Behinderung lieber fernhalten wollen von der Gesellschaft. „In anderen Ländern ist man da weiter“, sagt sie. Auch Belas ersten Schultag fand sie etwas trist: Bela war nur eins von zwei Kindern, die neu dazugekommen sind. „Eine einsame Angelegenheit war das.“ Bela aber, das räumt Anne Baum ein, hat sich offenbar von der ersten Sekunde an wohl gefühlt, und auch jetzt geht er gerne zur Schule und freut sich täglich, seine neu gewonnenen Freunde zu sehen.
Dass ihr Kind das Down-Syndrom haben wurde, erfuhr Anne Baum in der 30. Schwangerschaftswoche. Ahnen können hätte sie es schon früher. Bereits bei den Ultraschalluntersuchungen einige Wochen vorher gab es mögliche Hinweise auf eine Trisomie 21: die etwas kurzen Oberschenkelknochen, das verkürzte Nasenbein. Eine Fruchtwasser- und weitere Untersuchungen, um Gewissheit zu haben, lehnte sie jedoch ab: „Eine Fruchtwasseruntersuchung ist nicht risikolos für das ungeborene Kind – und geändert hätte sie auch nichts: Mein Mann und ich waren uns einig, dass wir jedes Kind bekommen würden.“
Ohne Bela geht nichts bei Schwester Lotta
Dass Bela lachen, lernen, spielen – leben! – darf, ist nicht selbstverständlich. Mit der fortschreitenden Entwicklung der Früherkennungsmöglichkeiten ist die Zahl der mit Trisomie 21 geborenen Kinder deutlich gesunken. Die Abtreibungsrate bei der Diagnose Down-Syndrom liegt in Deutschland bei 90 Prozent. In Dänemark wurden 2015 nur 31 Kinder mit Behinderung geboren, in Island praktisch keins mehr. Schwangere lassen die Nackenfalten des Ungeborenen messen und ihr Blut untersuchen, um mögliche Chromosomenanomalien zu bemerken. Wird eine Trisomie 21 vermutet, folgen weitere Tests, die den Eltern von gesunden Kindern Sicherheit geben. 2016 zog eine Mutter sogar vor Gericht, weil Ärzte eine Behinderung nicht pränatal diagnostiziert hatten. Dass hier auch Fehldiagnosen möglich sind und nach einem entsprechenden Befund Kinder ohne jede Behinderung geboren wurden, wird oft verschwiegen.
Anne Baum fehlt für diese Entwicklung jedes Verständnis. „Ich kann doch niemandem das Recht zu leben absprechen!“ Und wie es lebt, das Nesthäkchen der Baums: Bela lacht viel, kuschelt gern – allerdings nur mit Menschen, die ihm nahe stehen – er springt stundenlang auf dem Trampolin im Garten und liebt es, baden zu gehen. Ein besonders enges Verhältnis haben etwa auch Bela und seine 14-jährige Schwester Lotta. Wenn sie auf Klassenreise geht, verlangt sie beim Anruf nach Hause vor allem nach Bela: Ohne ihn geht nichts bei ihr.
Auch wenn eine Abtreibung keine Option gewesen wäre – das Herz ist Anne Baum freilich auch in die Hose gerutscht, wie sie sagt, als sie die Diagnose Down-Syndrom erhalten hatte. Sie hatte auch geweint und viel überlegt, wie es werden würde. „Nach einer Woche aber war das Thema Trisomie durch für mich, groß diskutiert haben es mein Mann und ich nicht.“ Es ging vielmehr darum, ob das Kind einen Herzfehler oder andere körperliche Einschränkungen haben würde, oder ob es gesund zur Welt kommt. Freunden und Familienmitgliedern habe sie bewusst vor der Geburt schon über das Down-Syndrom informiert, damit die Nachricht vom Tisch ist.
Zum Glück: Bela kam ohne körperliche Einschränkung auf die Welt. Statt OPs, wie sie häufig andere Kinder mit Down-Syndrom durchmachen müssen, gab es bei ihm vor allem endlos viele Glückwunschkarten. Pflegeleicht war er noch dazu: Bereits nach sechs Wochen schlief er durch. Therapietermine mussten die Baums dennoch mit ihm wahrnehmen, um an Belas geringer Muskelspannung zu arbeiten und um ihn durch Ergo- und Logotherapie zu fördern. „Das nahm uns viel Freiraum“, sagt Anne Baum. „Andererseits: Viele Eltern verpflichten sich auch zu Pekip und Krabbelgruppen und sind dadurch auch sehr eingespannt.“
Bela und die Kellnerin
Sie ist sich sicher: Großartig anders als in anderen Familien ist es nicht bei ihnen – und häufig beschert ihnen Bela großartige Erlebnisse. Wie neulich mit der Kellnerin im Kroatienurlaub, die fragte, ob sie Bela mal drücken dürfe, weil er so süß sei. Bela erlaubte es, und als die Dame ihn am Schluss fragte: Was magst du am liebsten – da sagte er: „Dich!“.
Doch ja, traurige Erlebnisse gibt es auch. Wie damals, als eine Mutter auf dem Spielplatz ihr Kind nicht mit Bela spielen lassen wollte. Schmerzhaft für die Baums war auch das Zerbrechen einer Freundschaft. Obwohl der Freund der Familie Bela kannte, hatte er Pränataldiagonistik und Abtreibungen unter gewissen Umständen „zum Wohle des Kindes“ verteidigt. Das konnten und wollten sich die Baums nicht anhören. In diesem Punkt sind sie dankbar für die klare Haltung der Kirche zum Thema Abtreibung und dass sie den Schutz des Lebens in den Mittelpunkt stellt.
Welchen Weg Bela gehen wird und was er einmal beruflich machen kann, weiß natürlich noch niemand. Dass Bela irgendwann, wenn seine Eltern alt sind, fremde Hilfe braucht, gefällt Anne Baum nicht. Sie hat Sorge, dass er sich leicht von anderen manipulieren lassen könnte. Dass er vermutlich eher kein Abitur machen wird wie seine Schwester Lilly, das findet sie nicht weiter schlimm. „Um Leistung ging es mir auch bei meinen anderen beiden Kindern nie“, sagte Anne Baum. „Sie finden hoffentlich den Weg, der sie glücklich macht.“
Der Abendbrottisch ist inzwischen abgeräumt, das Geschirr in der Spülmaschine. Nur noch ein paar Krümel sind auf der Tischplatte liegen geblieben. Bela pickt sie mit seinen Fingern auf, um sie gleich in den Mülleimer zu befördern. „Fertig!“, ruft Bela. Er lacht. Seine Mutter auch.
Down-Syndrom – was ist das?
Trisomie 21 ist eine genetische Besonderheit. In der Regel enthält jede menschliche Körperzelle 23 Chromosomen in zweifacher Ausführung, also 46. Menschen mit Down-Syndrom (benannt nach dem Entdecker besitzen 47 Chromosomen – das Chromosom 21 ist bei ihnen dreimal im Erbgut zu finden, was die Entwicklung und die körperliche Gesundheit beeinträchtigen kann. Wie stark, das lässt sich nicht vorhersehen. Manche Menschen mit Down-Syndrom sind auf viel Hilfe angewiesen, manche leben sehr selbstständig. Während der NS-Zeit galt das Leben von Menschen mit Down-Syndrom als „unwert“, sie wurden aus Gründen der „Rassenhygiene“ ermordet.
Das Risiko einer Trisomie 21 steigt mit dem Alter der Mutter (ab 35 Jahre). Bei einer 30-jährigen Schwangeren liegt die Wahrscheinlichkeit bei 1:200 bis 1:1000. Statistisch hat eins von 600 bis 800 Neugeborenen das Down-Syndrom. 30.000 bis 50.000 Menschen mit Down-Syndrom im Alter bis über 60 Jahren leben in Deutschland. In einer amerikanischen Studie gaben 99 Prozent der Menschen mit Down-Syndrom im Alter zwischen 12 und 51 Jahren an, ein glückliches und erfülltes Leben zu führen. 99 Prozent der Eltern und 96 Prozent der Geschwister sagten, dass sie ihr Kind bzw. ihre Geschwister lieben.
PS: Mehr zum Thema? Die gelernte Hotelfachfrau Astrid Schneider ist mit einer Schwester mit Behinderung aufgewachsen. Das war nicht immer einfach, und dennoch möchte sie keinen der Momente im Leben mit ihrer „Prinzessin“ missen. Inspiriert von ihr hat sie das Kinderbuch „Mirelle und ihre Freunde auf der Suche nach dem Wunschkraut“ geschrieben – und einen Gastbeitrag für „Mama und die Matschhose“. “„Irgendetwas stimmt mit dem Kind nicht!“, höre ich meine Mutter noch hysterisch sagen. Ich hatte mich so unglaublich auf mein Schwesterchen gefreut, und nun sollte etwas mit ihr nicht stimmen?”. Hier geht’s zum Beitrag.